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Diskussion um Karenztag in Deutschland: eine Zusammenfassung
In Deutschland wird kontrovers um die Wiedereinführung eines Karenztags diskutiert. Dabei ist die Datenlage unklar. Wir zeigen die aktuellen Argumente der Befürworter und der Gegner und gehen der Frage nach, ob der Krankenstand in Deutschland wirklich so hoch ist, wie manche behaupten.
Die aktuelle Debatte um die Wiedereinführung eines Karenztages in Deutschland berührt sowohl wirtschaftliche als auch soziale Aspekte. Ausgelöst wurde die Diskussion durch einen Vorstoß des Allianz-Chefs Oliver Bäte, der forderte, dass Arbeitnehmer für den ersten Krankheitstag keine Lohnfortzahlung mehr erhalten sollten.
Ein Karenztag ist ein Tag des Lohnverzichts im Krankheitsfall. Die Befürworter eines solchen Modells argumentieren, dass es ein wirksames Mittel sei, um den Krankenstand zu senken, weil es den Anreiz zum „Blaumachen“ reduziere. Insbesondere von Teilen der Wirtschaft wird argumentiert, dass so ein Teil der hohen Kosten, die durch Krankheitstage entstehen, reduziert werden könnte. Oliver Bäte beispielsweise beziffert die Kosten durch krankheitsbedingte Ausfälle für die deutsche Wirtschaft im Jahr 2024 auf 77 Milliarden Euro, zu denen noch einmal 19 Milliarden Euro durch die Krankenkassen hinzukommen.
Die Argumentation der Befürworter beruht auf der These des sogenannten „Moral Hazard“, des moralischen Risikos. Folgt man diesem Ansatz, dann neigen Menschen eher dazu, sich krankzumelden, wenn sie keine finanziellen Konsequenzen fürchten müssen. Die Befürworter verweisen auf historische Beispiele wie etwa die Einführung eines Karenztages in Frankreich im öffentlichen Dienst 2012, die zu einem Rückgang der Krankheitstage geführt haben soll, oder die Senkung der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent in Deutschland im Jahr 1996 (damals unter der Regierung von Helmut Kohl), die ebenfalls zu geringeren Fehlzeiten führte. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat errechnet, dass eine Senkung der Lohnfortzahlung bei Krankheit um 20 Prozent auch die Fehlzeiten um 20 Prozent senken würde.
Auf der anderen Seite stehen die Gegner des Karenztags, die vor allem soziale und gesundheitliche Konsequenzen befürchten. Sie argumentieren, dass ein Karenztag dazu führen könnte, dass Arbeitnehmer krank zur Arbeit gehen würden, um keine finanziellen Einbußen zu erleiden. Dies hätte nicht nur eine Verschleppung von Krankheiten zur Folge, sondern könnte auch zur Ansteckung von Kollegen führen und somit die Gesamtzahl der Krankheitstage erhöhen.
Ein weiteres Argument der Gegner ist, dass ein Karenztag zu mehr bürokratischen Aufwand führen könnte.
Und schließlich würde ein Karenztag einer Misstrauenskultur Vorschub leisten. Eine ausbleibende Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag könnte als Generalverdacht des Blaumachens verstanden werden. Dabei sind vor allem solche Unternehmen erfolgreich, in denen eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens herrscht.
Ist „Krankfeiern“ in Deutschland wirklich verbreitet?
Die Zahl der Krankheitstage in Deutschland ist in den letzten Jahren gestiegen Laut einer Studie der Techniker-Krankenkasse ist der Krankenstand in den letzten fünf Jahren von durchschnittlich knapp zwei Wochen auf rund 18 Tage angewachsen.
Die Frage, ob es in Deutschland tatsächlich ein weit verbreitetes „Blaumachen“ gibt, ist allerdings umstritten. Viele Kritiker betonen, dass es keine stichhaltigen Beweise dafür gebe. Eine Studie der DAK kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass der Anstieg der Krankheitstage hauptsächlich auf die Einführung der elektronischen Krankschreibung und auf vermehrte Erkältungswellen zurückzuführen sei. Die elektronische Krankschreibung, die erst seit 2022 verpflichtend ist, führt dazu, dass Atteste direkt an die Krankenkassen weitergeleitet werden. Zuvor war es den Arbeitnehmern freigestellt, ob sie eine Krankmeldung neben ihrem Arbeitgeber auch ihrer Krankenkasse zukommen lassen. Daher gelangten vor 2022 viele Krankmeldungen nicht zu den Krankenkassen, was die Statistik verzerrte.
Daneben dürfte auch ein verändertes Bewusstsein der Arbeitnehmer für Krankheiten seit der Corona-Pandemie eine Rolle spielen. Viele gehen häufiger zum Arzt und lassen sich auch bei leichten Beschwerden krankschreiben.
Auch der Ärztepräsident Klaus Reinhardt sieht keine Beweise für ein weitverbreitetes „Krankfeiern“ und führt den Anstieg der Krankheitstage auf die elektronische Krankschreibung zurück.
Deutschland: viele Krankheitstage im internationalen Vergleich
Im internationalen Vergleich zeigen Daten der OECD, dass Deutschland mit 24,9 bezahlten Krankheitstagen pro Person im Jahr 2022 den höchsten Wert aufweist. Jedoch ist die Datenlage im Vergleich zwischen den verschiedenen Ländern nicht einheitlich. Das räumt auch die OECD ein. In Schweden beispielsweise kann der erste Krankheitstag unbezahlt bleiben, danach gibt es 80 Prozent Lohnausgleich. In Deutschland hingegen erhalten Arbeitnehmer ab dem ersten Tag 100 Prozent ihres Gehalts für 42 Kalendertage.
Die großzügigen Regelungen in Deutschland könnten dazu führen, dass sich Menschen eher krankschreiben lassen. Auch die Wirtschaftslage spielt eine Rolle: In Zeiten geringer Arbeitslosigkeit und florierender Wirtschaft steigen die Fehlzeiten.
Bewertung
Es gibt keine eindeutigen Beweise für ein weitverbreitetes „Blaumachen“ in Deutschland, und der Anstieg der Krankheitstage dürfte nach den vorliegenden Daten vor allem auf die Einführung der elektronischen Krankschreibung, Erkältungswellen und ein verändertes Bewusstsein für Krankheit zurückzuführen sein.
Als mögliche Lösungsansätze werden neben dem Karenztag auch alternative Modelle diskutiert. Denkbar ist zum Beispiel ein Bonussystem, bei dem Arbeitgeber für jeden Kalendermonat ohne Krankmeldung einen steuer- und abgabenfreien Bonus zahlen könnten. Ein solches System könnte Anreize für eine niedrigere Fehlzeitenquote schaffen, ohne die Arbeitnehmer durch Lohnkürzungen zu benachteiligen. Zumindest für einige Berufe könnte auch die wahlweise Arbeit im Homeoffice bei leichten Erkrankungen wie zum Beispiel einer Erkältung eine Alternative sein.
Es ist wichtig, die tatsächlichen Ursachen für die hohen Fehlzeiten genauer zu untersuchen und präventive Maßnahmen zu entwickeln, anstatt die Lasten einseitig auf die Arbeitnehmer zu verlagern
Aber auch die Interessen der Unternehmen müssen berücksichtigt werden: Gerade für kleine Betriebe mit wenigen Beschäftigten kann der krankheitsbedingte Ausfall eines oder mehrerer Mitarbeiter eine erhebliche Belastung darstellen. Ob diesen Unternehmen jedoch mit einem Karenztag geholfen wäre, ist fraglich.